Alles meins: Aus den Weiten des Social Web ins eigene Wohnzimmer

Schwupp und weg – so kann’s im Social Web gehen. Die Alternative: Zumindest die Inhale an eine Stelle zusammenholen.

Wer im Social Web publiziert, tut dies in der Regel, weil die eine Plattform von den richtigen Leuten genutzt wird, weil die andere besondere Möglichkeiten bietet oder eine dritte bietet beides. Am Ende hat man viel kommuniziert, aber es ist kaum mehr nachvollziehbar, was mal wo veröffentlicht oder gar diskutiert wurde. Diesem Problem nähern sich nach meinem Eindruck seit ein paar Jahren zwei recht kleine Fraktionen: Auf der einen Seite die eher politische „Reclaim Social Media-„Bewegung, auf der anderen Seite auch einige, die sich mit Onlinekommunikation aus Sicht von Unternehmen und Organisationen beschäftigen, beispielsweise unter dem Begriff „Social Stream“.

Im Kern geht es um den selben Gedanken: Wer im Social Web publiziert, schafft bekanntlich Werte, die kaum mehr nachvollziehbar dezentral verteilt sind und in mehr oder weniger kommerziellen Silos feststecken. Die entsprechenden Plattformen leben prima von diesen Werten, geschaffen von Einzelnen, NGOs oder Unternehmen. Dafür bekommen die Contentersteller ja auch Infrastrukturen zur Verfügung gestellt, auf denen sie publizieren, diskutieren und Beziehungen aufbauen und pflegen können. Oft sind dazu keine direkte Nutzungsgebühren zu zahlen, statt dessen entstehen andere Kosten, denken wir an Nutzerdaten, Aufmerksamkeit für Werbung oder eben an die Plattform verschenkten Inhalten. Seit längerem schon ist dies Ausgangspunkt für unterschiedliche Diskussionen, wobei mir in den letzten Tagen ein paar Neuerungen bei den praktischen Umsetzungsmöglichkeiten untergekommen sind. Doch zunächst will ich die zwei Diskussionsstränge sehr grob nachzeichnen.

Reclaim Social Media und Social Streaming

Die Reclaim-Vertreter argumentieren teils politisch, teils pragmatisch. Mit „politisch“ meine ich die Überlegung, dass User wieder Kontrolle über ihre Inhalte bekommen sollen, die aus den Silos wie Facebook, Instagram, Twitter oder anderen herausgelöst und in ein offenes Web gebracht werden sollen. So ähnlich hatte Sascha Lobo letztes Jahr auf der republica argumentiert. Die pragmatische Sicht darauf: Wenn es gelingt, die verteilten Inhalte auf dem eigenen Server zu speichern, hat das die Funktion eines Backups und es wird einfach durchsuchbar. Überlegungen dieser Art sind schon Jahre alt: Beispielsweise waren alternative und offene Soziale Netzwerke wie Diaspora oder identi.ca in meiner Wahrnehmung zumindest teilweise aus ähnlichen Überlegungen entstanden.

Anders die Social-Stream-Fraktion – ich etikettiere sie jetzt mal so: Sie denkt weniger aus der Sicht einzelner Web-Publizisten, sondern eher aus Sicht von Unternehmen oder NGO und hat eher eine Marketing- bzw. PR-Brille auf. Hier geht es darum, inwiefern man die Corporate Website als klassischen Showroom anreichern kann, indem die Social Media-Aktivitäten des eigenen Unternehmens auch dort integriert werden. Für meinen Geschmack ist diese Diskussion eine neue Etikettierung für die verblasste Diskussion um Social Media Newsrooms. Letztendlich geht es vor allem darum, das Website-Erlebnis mit schon im Social Web geschaffenen Werten einfach zu erweitern und vielleicht sogar auf der Website neue Fans für die jeweiligen Aktivitäten andernorts zu gewinnen. Wie sinnvoll das ist, kann man grundsätzlich diskutieren, für mich ist’s eine Einzelfallentscheidung im Rahmen einer Content Strategie.

Umsetzungsmöglichkeiten

Mittlerweile gibt es ziemlich viele Ansätze, diese Bündelung verschiedener Netzaktivitäten an einem Ort hinzubekommen. Einige produzieren einen chronologischen Lifestream, andere sind stärker konfigurierbar und erlauben zum Beispiel Gruppierungen der Inhalte und detaillierte Designanpassungen der Inhaltsbausteine aus den Social Web-Anwendungen. Ein paar Beispiele:

  • Reclaim Social Media wird seit einigen Monaten von Felix Schwenzel und einigen Mitstreitern gebaut, es handelt sich dabei um eine Open Source-Lösung für WordPress. Die neueste Testversion wurde vor ein paar Tagen erst veröffentlicht. Nach meiner Interpretation ist das ein wundervolles Projekt, zunächst vor allem für Einzelpersonen. Neben der eigentlichen Zielsetzung von Reclaim kann ein solches Livestreaming z.B. bei Künstlern, Beratern o.ä. auch als Baustein des Personal Brandings gesehen werden. Aber es spricht natürlich nichts dagegen, dass auch Unternehmen den Ansatz nutzen.
  • Ebenfalls Open Source ist ThinkUp, das schon etwas früher auf den Weg gebracht wurde. Laut Produktbeschreibung (probiert habe ich’s nicht) geht es dabei auch sehr stark darum, die eigenen Social Media-Aktivitäten und die Reaktionen darauf zu analysieren. Außerdem kann man die Content-Bausteine wiederum ganz unterschiedlich auf einer eigenen Plattform darstellen, beispielsweise als Zeitleiste o.ä. Insofern scheint mir ThinkUp vor allem für Redaktionen, Unternehmen und NGOs interessant, die mehr wollen, als alles an einem Ort zu bündeln.
  • Felix Schwenzel hat neulich auf PESOS POSSE („Publish (on your) Own Site, Syndicate Elsewhere“) hingewiesen, ein Projekt, bei dem gerade umgekehrt vorgegangen wird: Hier wird von Anfang an alles auf dem eigenen Server publiziert und dann in Social Media-Kanäle geschoben – ein Ansatz, der für mein Empfinden etwas dogmatisch klingt und dem ich allein deshalb nicht folgen würde, weil ich auf der jeweiligen Plattform publizieren und mich nicht aus ihr heraus bewegen möchte, wenn ich dort etwas teilen mag. Sicherlich Geschmacksache.
  • Andere Social Stream-Angebote sind dagegen proprietär, beispielsweise Neosmart Stream*. Hauptsächliche Zielsetzung ist hierbei, den Social Media-Stream in eine Corporate Website einzubinden, wofür das Startup auch Installation und Designanpassungen anbietet. Mir scheint dieser Ansatz vor allem für Unternehmen sinnvoll – zumal, wenn sie eine komplette Dienstleistung beauftragen möchten.

Kurze Einschätzung

Sicherlich muss man die Alternativen technisch im Einzelfall genauer abwägen, wenn man die konkreten Anforderungen an ein solches Projekt zusammengestellt hat. Mich beschäftigen Ansätze wie die Genannten seit einiger Zeit vor allem aus der Beobachterrolle. Die Idee, die vielen eigenen Inhalte wieder zu finden und nicht einfach wegzugeben, finde ich prima – gebe aber zu, dass ich das Problem bisher nur rudimentär und wenig präsentabel angegangen bin: Durch Webautomation sammle ich z.B. auf Facebook geteilte Links oder Twitter-Favoriten in meinem Bookmarkarchiv, andererseits Bilder von verschiedenen Plattformen in einen zentralen flickr-Account. Sicher nur bruchstückhafte Lösungen. Abgesehen von der individuellen Perspektive haben wir bei uns am Mediencampus vor ein paar Jahren schon die vielen Streams aus Hochschulprojekten und Studiengängen auf unserer Mediencampus-Seite mal zusammenfließen lassen. Wie es immer bei Provisorien so ist, hat sich dieses gestalterisch sehr schlichte Ding eigentlich schon viel zu lang gehalten (de facto ist’s ein WordPress-PlugIn).

Ob man nun solch eine Bündelung von Social Media-Aktivitäten auf einer eigenen (Unter-)Seite der Website umsetzen mag, bleibt jedem selbst überlassen. Für Unternehmen oder NGO ist’s wie alles kein „Muss“, sondern muss wie schon angedeutet ein wohl überlegter Baustein der Content-Strategie sein. Für eine Hochschule mit extrem vielfältigen und dezentral geplanten einzelnen Aktivitäten empfinde ich einen solchen Ansatz beispielsweise als attraktiv, wenn es darum geht, genau diese Bandbreite darzustellen. Entscheidet man sich grundsätzlich für das Zurückholen der Daten ins eigene digitale Wohnzimmer, sollten aus meiner Sicht mindestens vier Anforderungen erfüllt sein:

  • Speicherung der Inhalte auf dem eigenen Server (Backup-Funktionalität, Durchsuchbarkeit)
  • Anpassungmöglichkeiten an das Website-Design
  • Der Social Stream ist responsive
  • Eine differenzierte Content-Strategie im Social Web, damit keine Dubletten entstehen

Im Zusammenhang mit der Onlinekommunikation von Organisationen oder Unternehmen (wie auch einzelner User) ist und bleibt das Ganze jedoch vermutlich ein Nischenthema. Aus PR-Sicht liegt zunächst einmal der Fokus von Social Media-Aktivitäten darauf, differenziert Möglichkeiten der Vernetzung mit unterschiedlichen Zielgruppen und unterschiedliche Kommunikationsformen der jeweilige Plattformen zu nutzen. All dies wieder auf der Corporate Website zusammenzuführen, ist ein Spezialfall, mit dem vermutlich nur ein kleiner Teil der klassischen Websitebesucher erreicht werden kann. In einzelnen Situationen bzw. bei einigen Marken kann eine Anreicherung der Website durch die Social Media-Aktivitäten aber durchaus sinnvoll sein – nicht nur aus Imagegründen, sondern eventuell auch durch SEO-Effekte.

Beispiele

Ich habe mal ein paar Screenshots gesammelt, um ein paar Eindrücke der diskutierten Ansätze zu geben.

Beispiel 1 zeigt einen Screenshot des (noch nicht fertigen) Reclaim-Projektes von Felix Schwenzel und Sascha Lobo. Mir gefällt das sehr gut so, auch die Filterfunktion. Wenn man möchte, kann man das Ganze natürlich auch in einer einzigen Spalte anordnen und anders designen.

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Reclaim Social Media: Elegant gelöst – mit angedachten Vernetzungsfunktionen mit Freunden

Beispiel 2 zeigt Social Publish von Mercedes Benz, das vor etwa zwei Jahren hochgelobt wurde und manch andere Unternehmen scheinbar inspiriert hat. Das Hauptproblem zeigt sich im Screenshot gnadenlos: Die Content Strategie. Sobald man ein Thema auf verschiedenen Kanälen postet, erscheint das Ganze aggregiert logischerweise mehr oder weniger als Dublette.

Social Publish von Mercedes Benz: Hochgelobt, aber Probleme mit Mehrfachpostings
Social Publish von Mercedes Benz: Hochgelobt, aber Probleme mit Mehrfachpostings

Außer Konkurrenz und von einem Studenten vor fast vier Jahren auf die Schnelle gebastelt: Das Campusradar unseres Mediencampus. Hier zeigen sich gleich mehrere Probleme: Nicht responsiv, der Pflegeaufwand des WordPress-PlugIns z.B. bei API-Änderungen der Social Media-Plattformen und ein Minimaldesign. Gut gefällt mir noch immer die Idee, bis zu drei Meldungen manuell in der ersten Zeile pinnen zu können, um ein Thema hervorzuheben.

Die Idee des Campusradar ist, Website-Besuchern einen Überblick zu den vielfältigen Projekten der Studiengänge zu geben.
Die Idee des Campusradar ist, Website-Besuchern einen Überblick zu den vielfältigen Projekten der Studiengänge zu geben.

Der letzte Screenshot zeigt schließlich einen kleinen Ausschnitt aus einer Neosmart-Anwendung. Gut gefällt mir daran, dass sich das Ganze optisch nahtlos in die Website (hier einer Klamottenmarke) einbinden lässt und man zum Beispiel direkt den Youtube-Channel serviert bekommt oder ganz direkt ins Blog einsteigen kann oder eben einen Eindruck der Bilder auf Pinterest und Instagram bekommt. Allerdings habe ich bei diesem Beispiel die Ladezeit als ziemlich lang empfunden.

Ein kleiner Ausschnitt des Social Stream von James Jeans (mit neosmart)
Ein kleiner Ausschnitt des Social Stream von James Jeans (mit neosmart)

Soweit mein kleiner Überblick, den ich gleichzeitig als Unterrichtseinheit für Einsteiger als einen Aspekt einer kanalübergreifenden Content Strategie verwenden möchte. Es gibt sicher noch zahllose andere technische Lösungen und Anwendungsbeispiele dazu. Habt ihr Favoriten?

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Noch eine Anmerkung:

* Neosmart ist ein Startup, das von einem Absolventen unseres Mediencampus auf den Weg gebracht wurde.

16 Kommentare

      1. Die Posts kommen kommen per RSS in den Newsroom, werden also nur angezeigt. So gesehen passt unsere Lösung natürlich nur eingeschränkt zu diesem Posting.

        Wir haben übrigens schnell festgestellt, dass ein ausgeklügelter Themenplan für die verschiedenen Plattformen jetzt noch wichtiger ist als zuvor, um Dubletten zu vermeiden.

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      2. Oh ja, so ein simples kleines Tool kann Arbeitsprozesse ganz schön beeinflussen. Da stellt sich für mich irgendwann die Frage, ob der Folgeaufwand zu rechtfertigen ist. Es kann ja sein, dass der Nutzen, einen Blogpost auf drei anderen Kanälen zu teilen, größer is als der Newsroom auf der Website. Wäre irgendwann mal eine spannende Evaluation….

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    1. Haha, freu mich schon! Und danke schön für die Tipps. Die Social Cloud ist mir doch bisher direkt entgangen. Sieht ein bisschen aus wie „wir können’s, wissen aber nicht so recht , warum“ ;)

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  1. kleine korrektur: PESOS ist der ansatz den auch reclaim social media verfolgt, nämlich „Publish Elsewhere, Syndicate (to your) Own Site“. POSSE ist das was du oben meinst: „Publish (on your) Own Site, Syndicate Elsewhere“

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  2. Vielen Dank für den super Überblick. Bei meinen Recherchen zu dem Thema bin ich mal auf http://www.twinesocial.com gestoßen. Vom Aufbau her ein Tool welches die eigenen Inhalte aus unterschiedlichen Kanälen sammelt und übersichtlich darstellt. Interessant finde ich die Funktion „Drafts“. Diese ermöglicht es andere Inhalte über Hashtags aus Sozialen Netzwerken und RSS Feeds zu kuratieren. Das Besondere dabei ist, dass diese zunächst versteckt sind und sozusagen nur im backend angezeigt werden. Der Eigentümer kann dann ganz einfach in einem zweiten Schritt auswählen welchen Inhalt er gerne in seinem eigenen Wohnzimmer seinen Gästen zeigen möchte und welche nicht.

    Für Unternehmen sehe ich hier die Chance, dass z.B. eigenen Onlinemagazine oder Blogs durch Inhalte aus den Weiten des Social Webs angereichert werden können – jedoch von der Onlineredaktion so vorgefiltert werden, das aus der Flut der Informationen nur die für die Zielgruppen relevanten zu sehen sind. So könnten dubletten aus den eigenen Kanäle vermieden werden und darüber hinaus hätte der Nutzer Inhalte aus unterschiedlichsten Quellen zu einem bestimmten (vielleicht auch spitzen Thema) auf einer Plattform dargestellt. Aus PR- und Marketingsicht wird es hier interessant da eigenen Inhalte im Kontext von externen erscheinen und andersherum.

    In meiner „perfekten Welt“ würde sich dann der Corporate Redakteuer morgens im Büro an den Computer setzen den „Draft-Bereich“ aufmachen und sich überlegen welche Geschichten er heute (aus eigenen und fremden Kanälen) der Zielgruppe erzählen möchte.

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    1. Oh, das klingt ja spannend! Herzlichen Dank für diesen Hinweis, das muss ich mir auf jeden Fall genauer anschauen. Gerade Funktion des Anreicherns/Kuratierens scheint eine klasse Idee zu sein. Allerdings scheint das Ganze v.a. auf die Anzeige von Social Media-Inhalten abzuzielen, nicht die Kopie auf den eigenen Server zwecks Durchsuchbarkeit und Backup. Ist natürlich Abwägungsfrage….

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Kommentare sind geschlossen.