Im Web spiele ich gern den Otto-Normalnutzer, schließlich will ich sehen, was man da so erlebt. Ganz ehrlich: Es nervt. Das ist keine neue Erkenntnis, aber es tut gut, das immer mal wieder zu sagen. So wie es Doc Searls und David Weinberger mit einer neuen Version des Cluetrain-Manifests (deutsche Übersetzung) neulich getan haben. 121 neue Thesen, das ist ziemlich viel Holz, ein paar kann ich nach Recherchen zu Weihnachtseinkäufen und Reisen, die mich heute noch verfolgen, besonders gut nachvollziehen. Zwar gehen die Autoren auf viele Aspekte ein, aber in meiner Wahrnehmung betonen sie: Online-Marketing ist kaputt. Zumindest das, das wir heute kennen.

Zu nahe, zu wenig hilfreich
Es ist ein ganz alltägliches Szenario: Man hat irgendwas mit diesem Internet zu tun und wird von der Generation der eigenen Eltern zu diesen und jenen Problemchen gefragt, die sie im Alltag mit ihren Computern haben. Man versucht herauszubekommen, warum der doofe Drucker nach dem Update auf ein neues Betriebssystem jede dritte Zeile unvollständig druckt; man versucht, einen Treiber für das neue Grafiktablet zu finden (wegen des neuen Betriebssystems) und für jemand anderen sucht man einen Ersatz für den in die Tage gekommenen Rechner. Vor Wochen schon wurde ein neues Notebook gekauft, der Drucker will noch immer nicht, aber das Grafiktablet läuft. Aber wo ich mich im Web auch bewege: Ich werde zugeschüttet mit ständig neuen tollen Angeboten für Notebooks und Drucker – und noch tolleren Angeboten für meinen Urlaub. Der ist natürlich seit Monaten Geschichte, aber ich habe ja mal nach Unterkünften an drei möglichen Reisezielen gesucht. Super, diese Personalisierung der Werbung, die mich besonders auf journalistischen Websites und Facebook verfolgt. Die Personalisierung funktioniert eben nicht, sondern – siehe oben – sie nervt. Und ich fühle mich oft auch über den Tisch gezogen. Denn viele Anbieter – beispielsweise Hotelportale – individualisieren nicht nicht ihre Produktvorschläge, sondern auch die Preise.
Personalisierte Werbung nervt aber nicht nur, weil ihre sie programmierenden Götter meinen, ich sei immer und in jeder Situation ein zahlungswilliger Kunde, sie nervt auch, weil sie mir mit ihrer Datensammelwut zu nahe tritt. Genau dies sind wichtige Kritikpunkte der „New Clues“. Einer der Autoren, Doc Searls, rechnet in einem separaten Blogpost mit dem Online-Marketing ab: Er hält das – wie er es treffend nennt – Fracking von Nutzerdaten, wie es heute üblich ist, für vollkommenen Blödsinn.
Quit fracking our lives to extract data that’s none of your business and that your machines misinterpret. — New Clues, #58
Doc Searls nennt drei grobe Fehlannahmen des modernen Online-Marketings:
- Der Irrglaube, Nutzer bewegten sich ständig in einem Markt und wollten immer etwas kaufen.
- Die Annahme, die ständige Datenauswertung wäre den Nutzern egal.
- Die Maschinengläubigkeit, mit der angenommen wird, dass Maschinen Menschen besser kennen als sie sich selbst.
Tatsächlich aber seien Menschen viel komplexer und hätten nicht nur eine klare Identität wie Marc Zuckerberg und andere sich das wünschten. Ähnlich wie die Netzwerktheorie argumentiert er mit unterschiedlichen Aspekten eines Menschen, dort spricht man von Rollen. Deshalb fordert Searls von der Werbung eine Verabschiedung von der Personalisierung und eine Betonung der Markenkommunikation, ein Ende der Verharmlosung von Big Data-Methoden für die Privatsphäre der Nutzer und schließlich setzt er große Hoffnungen in neue Softwarelösungen, mit denen Kunden selbst über ihre Beziehung zu Verkäufern entscheiden können (Vendor Relationship Management, VRM). Dazu muss man wissen, dass Searls seit einigen Jahren an der Harvard Universität ein Forschungsprojekt leitet, in dem es um VRM-Systeme geht. Die Grundüberlegung: Die Internetnutzer sollen von Anbietern nicht ungewollt verfolgt und bombardiert werden, sondern selbst darüber entscheiden, welche Angebote sie wann zu sehen bekommen (Searls nennt dieses Prinzip “ Intention economy„).
Wer steckt hinter Cluetrain?
Für diejenigen, die Doc Searls und David Weinberger nicht kennen, ist es Zeit, sie kurz vorzustellen: Doc Searls gilt als einer der anerkanntesten Technologiejournalisten in den USA, als Vordenker der Blogbewegung und als wichtiger Befürworter des Open Source-Gedankens. Seit Jahren ist er auch der Forschung verbunden, als Fellow an der University of California und vor allem dem Berkman Center in Harvard. David Weinberger ist von Haus aus Philosoph – und gilt als Marketing-Guru (wobei er persönlich freundlich und humorvoll und gar nicht klischeehaft gurumäßig auftritt). Auch er hat Wurzeln im Technologiejournalismus, war nebenbei auch mal Gag-Schreiber, ging dann ins (Online-)Marketing, beriet Präsidentschaftskandidaten zu ihren Kampagnen und ist ebenfalls in Harvard tätig. Was ich damit sagen will: Die Kritik, die schon im ersten Cluetrain-Manifest und nun auch in den New Clues formuliert wird, kommt mit diesen Autoren nicht von Zuschauern oder Leidtragenden aka Netznormalos, sondern aus der Branche selbst.
Das neue Manifest

Natürlich spannen die New Clues thematisch einen viel weiteren Bogen als ich es bisher getan habe. Eine sehr gute Einordnung gibt es bei Gigaom:
The first Manifesto was meant as a wake-up call for corporations and governments, a warning that the web and social tools were going to empower people in a host of different ways, and that this power shift would disrupt markets of all kinds — commercial, intellectual, political.
Das neue Manifest sieht neue Risiken, die nun nicht nur Unternehmen betreffen, sondern das Internet selbst:
… the risk that corporations and governments are taking control of the internet in a host of different ways, creating silos and restrictions that threaten to shut down many of the web’s best features and give the power back to those it was taken from.
Alle diese Probleme, so das Manifest, bestehen vor allem, weil die Internetnutzer dies zulassen, sie ein Internet der Großkonzerne wie Google, Facebook, Apple, Twitter akzeptieren. Schön formuliert ist dies bei Heise:
Die Märkte sind voll von Trollen, Idioten und Schatzräubern, doch der größte Hammel sind wir alle als tumbe Horde, die es sich gefallen lässt, dass Trolle, Idioten und Schatzräuber trollen, beleidigen und räubern können. Wo ist unser Stolz auf dieses wunderbare Netz geblieben?
Vier Forderungen der Autoren scheinen mir besonders wichtig:
- die Notwendigkeit einer technischen Offenheit des Netzes
- die Interoperabilität
- die Freiheit (ökonomisch wie politisch)
- die Netzneutralität
Ein großes Problem in diesem Zusammenhang sehen die beiden in mobilen Apps, die eben nicht offen sind, sondern überall digitale Gartenzäune aufgebaut haben. Nebenbei: An mehreren Stellen treten sie für klare Verhältnisse im Marketing ein. So auch, wenn sie native Ads als „fake fucking news“ bezeichnen, die das Vertrauen der Nutzer beschädigt. Nicht immer übrigens ist die Sprache der beiden so harsch, an manchen Stellen kommt das Manifest eher wie eine sprachliche Blümchenwiese daher – wenngleich die Intention immer klar ist.
Und was bedeutet das nun?

Die Frage ist nur: Was bedeutet das Ganze für den einzelnen Internet-Nutzer, für mich? Diese Frage hat sich auch der Journalist Ken Camp (u.a. The next Web) gestellt. Sein Problem: So, wie wir das Netz nutzen, ist es halt furchtbar praktisch, und damit meint er Plattformen wie WordPress, Medium, Microsoft Sway oder Google+:
I am a writer. I don’t want to be a sysadmin. I don’t want to manage pages and HTML. I don’t want to deal with the endless stream of patch updates, plugins, breaches and changes. I want to write.
Er ruft Entwickler auf, universelle Apps zu bauen anstatt solche, die speziell für ein Betriebssystem sind.
Meine Baustelle ist dies nicht. Was also tun? Für mich habe ich ganz, ganz kleine Dinge beschlossen: bei den aufdringlichsten Werbern nicht mehr zu kaufen – und nun doch einen Ad-Blocker zu installieren. Produktrecherchen mache ich seit einiger Zeit nur noch im privaten Browserfenster am Notebook und nicht mit dem iPad. Und ich nehme mir vor, weiterhin möglichst viel – auch meine wissenschaftlichen Texte – hier zu veröffentlichen. In meiner Rolle als Lehrender sehe ich zwei Verantwortungen: Zum einen, dass unsere Studierenden mit einer bestmöglichen Onlinekompetenz aus der Hochschule gehen, zum anderen, dass sie als mögliche spätere Akteure in diesem Spiel nicht nur die unterschiedlichen Positionen und Bedürfnisse kennen, sondern dass sie ihr eigenes Handeln danach ausrichten. Wie wir im Studiengang Onlinekommunikation den Studienschwerpunkt Onlinemarketing im Detail leben, wird mit Sicherheit auch viele spannende Diskussionen mit den Kollegen bringen.
Ob es in der Branche eine breitere Diskussion geben wird oder ob die Autoren eben als alternde Netz-Hippies mit netten Ratschlägen wahrgenommen werden, muss sich noch zeigen.
Viel ist all das wie gesagt nicht. Und genau das ist vermutlich das Problem des Cluetrain-Manifests. Ich habe nicht den Eindruck, dass es in einer immer lauter gewordenen Welt wahnsinnig viel bewegen wird. Vielleicht täusche ich mich da ja. Vor allem ist gut, dass all das mal gesagt wurde.
Hat dies auf Ich sag mal rebloggt und kommentierte:
Sehr gute Zusammen des neuen Cluetrain-Manifests
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