Der blinde Fleck der Content Strategie

Bei der Vorbereitung von Lehrveranstaltungen zu Content Strategie habe ich einen kleinen Aspekt als unterbelichtet wahrgenommen: Die Auslieferung von Content und damit das Spannungsverhältnis zwischen Pull, Push, Dialog und Netzwerkeffekten sowie den jeweiligen Anforderungen der Bezugsgruppen.

Versuchen wir, eine kleine Lücke in der Diskussion um Content Strategie zu schließen....
Versuchen wir, eine kleine Lücke in der Diskussion um Content Strategie zu schließen….

Verfolgt man die Diskussion zu Content Strategie und Content Marketing, gibt es auch aktuell wieder extrem spannende Artikel, Präsentationen und Studien: Nach meiner Beobachtung sind darunter wichtige Erklärstücke – die einen zeigen, worum es geht und wie sich die (Medien-)Welt verändert, andere geben Hinweise, wie man Content Strategien entwickelt bzw. Content Marketing umsetzt. Die zweite Art von Beiträgen sind Fallbeispiele, die zeigen, wie das Unternehmen xy insgesamt eine Content Strategie entwickelt hat oder was Marke z in einem speziellen Umfeld ausprobiert. Und drittens lesen wir täglich eine große Anzahl von Updates zu neuen Funktionen bestehender Plattformen oder zu neuen Tools, die für Content Strategen irgendwie relevant sein könnten.

Die großen Entwicklungen im Web und ihre Bedeutung für Content Strategen

So gut es geht, diskutieren wir die kleinen und größere Veränderungen im Web auch in Lehrveranstaltungen. So zum Beispiel den Versuch, immer mehr Menschen in Walled Gardens zu halten, wie wir das bei Facebook, Snapchat, Instagram, LinkedIn, Xing oder anderen sehen. Betrachten wir nur kurz Facebook, so gibt es mit hohem Tempo neue Entwicklungen, die verstanden, ausprobiert und bewertet werden sollen: Waren es gerade noch die Instant Articels, so geht es heute um Notify, eine App, mit der Facebook-Nutzer künftig News-Alerts auf den Lockscreen des Smartphone bekommen können. Auch Snapchat, Twitter und andere Plattformen haben in den letzten Wochen bunte Sträuße neuer Funktionen angekündigt bzw. eingeführt. Und Google als Hauptprofiteur eines offenen Web tut vieles dafür, dass sein Suchschlitz auch mobil intensiv verwendet wird und die gefundenen Ergebnisse gut nutzbar sind.

Grundsätzlich gilt natürlich aus Sicht von Content Strategen, dass sich die Integration neuer Tools und Funktionen in das eigene Kommunikationsmenu an den Anspruchsgruppen orientieren muss. Welche Interessen und Erwartungen haben diese wirklich, wodurch unterscheiden sich diese, wo sind sie (für wen) erreichbar etc.? Zugleich sind die Schnittmengen zwischen dem Nutzen, der für die Anspruchsgruppen geschaffen werden kann und den Unternehmenszielen zu ergründen, damit sich aus Firmensicht Investitionen lohnen können. Ähnliches gilt natürlich für die Nonprofit-Kommunikation.

Wo ist die Schnittmenge zwischen Nutzern und Kommunikationszielen von Unternehmen?

Steigt man jedoch etwas tiefer ein die Literatur ein und fragt, wie es denn funktioniert, diese Schnittmenge zwischen dem Nutzen für die Anspruchsgruppen und dem Erreichen von Kommunikationszielen von Unternehmen zu erschließen, so bleibt die Argumentation in meiner Wahrnehmung oft relativ dünn. Es gibt natürlich einige hilfreiche Ansätze. In Bezug auf verschiedene Wahrnehmungsphasen und Interessen potenzieller Käufer bringen Klaus Eck und Doris Eichmeier in ihrem Buch zur Content Revolution den Kaufzyklus ins Gespräch (S. 74):

  • Pre Sales (Kunde hat noch gar kein Problem)
  • Initial Sales (Problemverständnis)
  • Mid Sales (Identifikation von Anbietern)
  • Final Sales (Entscheidung für Anbieter)

Lee Odden, seit vielen Jahren als Berater für Online-Marketing unterwegs, empfiehlt die folgenden Schritte, um zu einem integrierten Ansatz zu kommen:

  1. „Understand buyers and how they discover, consume and act on information they seek in the solution research process.

  2. Think about what questions your customers need answered and in what channels to buy. Then provide the answers!

  3. Optimize for the customer experience by applying insights about customer content preferences for discovery, consumption and action to your content.

  4. Identify your brand story and the unique selling proposition you have to offer your customers. Create signals of credibility for that USP in every channel where customers are looking and can be influenced.

  5. Become the best answer in every channel where your customers are present: researching, consuming, subscribing and being influenced.“

Und im Content Strategist beschreibt Aaron Taube aktuell am Beispiel der B2B-Kommunikation das Zusammenwirken von Marketing und Vertrieb, um gemeinsam Inhalte aufzubereiten, etwa als Whitepaper, Case Studies oder mit Hilfe von Testimonials.

Erweitert man die Marketing-Perspektive und blickt auf andere Bezugsgruppen wie Mitarbeiter, Bewerber, Anwohner, Anleger oder gesellschaftspolitische Akteure, so ist sicherlich die Stakeholder-Theorie wie wir sie aus der PR-Wissenschaft kennen, hilfreich, die ähnlich funktioniert wie das oben erwähnte Stufenmodell – nur, dass es hier nicht um den Kauf geht, sondern die Wahrnehmung und den Bezug zu Themen (Issues).

Doch wo ist nun genau das Problem?

Das alles klingt doch ziemlich überzeugend, wo ist also das Problem? Aus meiner Sicht bleiben die Tipps dort dünn, wo es um die Frage geht, auf welchem Weg und in welcher Häufigkeit welche Inhalte zwischen Unternehmen und ihren Bezugsgruppen in der Onlinekommunikation ausgetauscht werden. Natürlich kann man diese Fragen vollständig nur durch einen individuellen Konzeptionsprozess klären – was einschließt, dass es keine allgemeingültigen Antworten geben kann. Dennoch schlage ich als Denkrahmen vor, eine uns allen bekannte alte Unterscheidung heranzuziehen: Push- und Pull-Kommunikation. Diese würde ich ergänzen um netzwerkorientierte Kommunikation sowie dialogorientierte Kommunikation.

Und was bringt das?

  • Beginnen wir mit der Pull-Kommunikation: Mir scheint es hilfreich, sich bewusst zu machen, dass zum Beispiel in einer frühen Orientierungsphase Bezugsgruppen üblicherweise auf Pull-Kommunikation setzen. Damit ist im Web hauptsächlich die Suche gemeint: Jemand hat ein schlichtes Informationsbedürfnis. Unternehmen müssen dabei also mögliche Fragestellungen antizipieren, Antworten aufbereiten und damit Content Strategie und SEO zusammenbringen. Neben grundlegenden Fragen, die dem Verständnis eines Themas oder Angebots dienen (z.B. Erklärstücke, FAQ, Whitepaper) spielen dann natürlich auch Einordnungen eine Rolle, etwa Vergleiche durch Tests, Kundenrezensionen etc.
  • Auf der anderen Seite steht die Push-Kommunikation: Von ihr ist derzeit häufig die Rede, gerade wenn es um die Mitteilungszentrale im Homescreen des Smartphones geht. Welche Marke möchte da nicht gern präsent sein? Andere Beispiele für Push sind RSS und der gelegentlich von Web-Profis unterschätzte Newsletter. Doch wer möchte wann Push-Informationen? Im Kaufprozess vielleicht der Fan einer Marke, der wissen möchte, wann seine Traum-Sneaker im Online-Shop verfügbar sind. Allgemeiner gesprochen aber kaum jemand, der sich erst mal grundsätzlich informieren möchte, sondern eher jemand, der sich darauf einlässt, eine Kommunikationsbeziehung einzugehen und eine klare Vorstellung hat, was es ihm bringt, sich Push-Nachrichten schicken zu lassen.
  • Drittens sehe ich die netzwerkorientierte Kommunikation: Hier geht es vor allem um die Informationsverbreitung, wie wir sie im Social Web kennen – also durch persönliche Empfehlungen meiner Bekannten oder/und durch Algorithmen etc. Typisch hierbei ist natürlich die Anreicherung von Content durch die Nutzer – also durch Bewertungen, Kommentierungen etc. , was aber immer auch voraussetzt, dass Inhalte in die jeweiligen Ökosysteme eingespeist werden und die relevanten Bezugsgruppen dort erreichbar sind.
  • Schließlich sehe ich Dialogkommunikation: Lange waren Dialoge als Ausdruck eines Rückkanals in der Diskussion um Social Media gehypt, oft kam eine Enttäuschung – entweder zur Qualität von Dialogen und dem damit verbundenen Aufwand, oder es zeigte sich, dass die erwarteten Dialoge nicht wie erwartet stattfanden. Mir scheint, dass auch dieses Thema eng an Kaufzyklen bzw. die Aktivierung von Bezugsgruppen gebunden werden sollte.

Ich bin mir bewusst, dass diese vier Prinzipien in der Logik nicht vollkommen stringent sind – insofern dient ihre Beschreibung hier vielleicht auch der weiteren Klärung in meinem Kopf. Bereits klar ist zudem: Nicht immer sind diese vier Prinzipien eindeutig voneinander trennbar: Natürlich kann man statt der Suchmaschine auch das eigene Netzwerk fragen, so dass zum Beispiel in einer Informationsphase schon unterschiedliche Ebenen angespielt werden können. Zudem fällt auf, dass Plattformen wie Facebook versuchen, möglichst alle dieser Prinzipien zu integrieren, während andere Dienste und Kanäle sich eher fokussieren. Und geht es beispielsweise um echte Stakeholder-Beziehungen, so bewegt man sich oft zwischen Push- und Netzwerkkommunikation sowie direkter Dialogkommunikation.

Mein Fazit

Vielleicht ist das Anlegen dieser vier Grundprinzipien für Profis zu trivial. In der Lehre habe ich jedoch das Gefühl, dass sie hilfreich sind, um die Bezugsgruppen und ihre Interessen auf der einen Seite besser verstehen zu können („welche Ansprachemöglichkeiten ist für eine Bezugsgruppe in der jeweiligen Situation akzeptabel/wünschenswert?“), andererseits empfinde ich es hilfreich, die jeweils neuesten Entwicklungen bei Tools und Plattformen in diesem Schema einzuordnen. Hierdurch kann man sich leichter erschließen, für welche Kommunikationsaufgabe dies denn grundsätzlich in die Content Strategie eingebunden werden könnte – um dann davon ausgehend weitere Rechercheschritte – wie Befragungen von Bezugsgruppen, Nutzeranalysen o.ä. – umsetzen zu können. Konkretes Beispiel: Wenn Facebook wie gerade eben mit Notify einen neuen Push-Dienst vorstellt, stellt sich für Unternehmen erst mal die Frage, welche Bezugsgruppen sich so ausgelieferte Push-Nachrichten für welche Themen, Häufigkeiten etc. vorstellen können. Und damit sind wir bei meinem letzten Punkt: Mir scheint das Schema auch hilfreich, um sich Anforderungen an die Gestaltung von Content auf der jeweiligen Ebene bewusst zu machen.

Lesetipps

  • In der vor kurzem erschienenen zweiten Auflage des Handbuch Online-PR (Hg. Ansgar Zerfaß und ich) beschreiben Brigitte Alice Radl und Heinz Wittenbrink in einem Artikel das Thema Content Strategie.
  • Klaus Eck und Doris Eichmeier haben mit „Die Content Revolution im Unternehmen“ dem Thema ein ganzes Buch gewidmet, allerdings oft Marketing-Brille aufgezogen
  • Beim Institute for PR findet sich das 2006 veröffentlichte Paper „Priorizing Stakeholders for Public Relations“ (pdf), das auch heute für die Entwicklung stakeholder-bezogener Kommunikation eine gute Grundlage bietet.

7 Kommentare

  1. Interessante Denkanstöße, danke dafür :-)

    Ganz werden Unternehmen den blinden Fleck ihrer Content Strategie wohl nicht beseitigen können, aber ein offener Dialog mit potenziellen Kunden könnte da schon wahre Wunder wirken …

    Als Kunde fühle ich mich von „Push“-Aktionen immer weniger angesprochen. Dagegen sehe ich in „Pull“ noch viel ungenutztes Potenzial – auch und gerade in Verbindung mit Netzwerkeffekten und Dialogen (-dazu gehört dann natürlich auch eine Portion SEO im weitesten Sinne-).

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    1. Danke für das Feedback. Mir geht es ganz ähnlich und beobachte mit sehr gemischten Gefühlen dieses Spannungsfeld – ich habe mich dabei ertappt, dass ich in Bezug auf Marketing/PR nur eine Art von Push-Nachrichten zulasse: Drei, vier Newsletter in die Mailbox, aber keinerlei auf dem Smartphone. Für mich ist das eine Art Selbstverteidigung, die Entwicklung von Content Strategien wird durch solche Nutzer natürlich ein bisschen mühsamer…

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      1. Ja, gerade auch im Hinblick auf ‚Notify‘ denke ich wieder über Push-Nachrichten nach. Es mag sinnvolle Anwendungsfälle geben, aber ich denke auch, dass der Umgang damit eine ’neue‘ Medienkompetenz erfordert, die wir erst noch lernen müssen … ich teile die „gemischten Gefühle“; interessant ist dieses „Spannungsfeld“ allemal.

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  2. Lieber Thomas, danke für die Analyse und den Vorschlag zur Klassifikation der Kommunikationswege. Vor allem die Differenzierung gefällt mir sehr gut. – Zwei Bemerkungen nach der ersten Lektüre:

    1. Im Content-Marketing geht es bei der Analyse der Touchpoints mit Inhalten wenigstens teilweise um ein ähnliches Thema. Gerade Eck/Eichmeier sind da mit ihrer Matrix interessant.
    2. In Zukunft werden sicher Algorithmen zur Empfehlung wie bei Google Now und dem Facebook Feed eine noch größere Rolle spielen. Sie kombinieren Push und Pull. Sind sie nicht vielleicht noch eine Kategorie für sich?

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    1. Danke, lieber Heinz, für Deine Anregungen. Tatsächlich haben wir in einigen Diskussionen in den letzten Tagen ein paar Mal das Problem gehabt, wo die Grenzen zwischen Push und Pull sind. Algorithmen separat aufnehmen erscheint mir sehr sinnvoll, da hast Du Recht.

      Ansonsten: Ja, der Blick ins Marketing erscheint mir auch hilfreich. Habe auch den Tipp bekommen, dass Brian Solis in seinem neuen Buch ganz ähnlich argumentiert (meine Bestellung ist noch unterwegs…)

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  3. Hallo Thomas,

    sowohl das Thema als auch der Artikel finde ich sehr gut.

    Der „blinde Fleck“ im Rahmen der Content Strategie ist herausfordernd. Persönlich präferiere ich den Mix der vorgestellten 4 Kommunikationsarten. So kann zum Beispiel auch in einem Newsletter alle integriert sein. Jedoch besteht meiner Meinung nach eine Herausforderung im Betreff. Die Herausforderung meint, dass alle Newsletter-Abonnenten den Newsletter öffnen. Demnach muss der Betreff eine „Eierlegende Wollmichsau“ sein. Sowohl der Abonnent der auf seine „Traum-Sneaker im Online-Shop“ wartet als auch der Abonnent der Dialog wünscht müssen so angesprochen werden im Betreff, dass sie den Newsletter öffnen. Bleibt dieser ungeöffnet, verschlechtert sich der ROI für den Newsletter.

    Bei diesem Beispiel mit dem Newsletter bleiben die unterschiedlichen Präferenzen der PR und des Marketings unbeachtet. Kommen diese beiden „Spieler“ hinzu, steigt die Komplexität bzgl. „blinde Fleck“ im Rahmen der Content Strategie.

    Beste Grüße

    Ralph

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